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World Wide Werther

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Die junge Regisseurin Cosmea Spelleken inszeniert mit „Werther.live“ zwar die alten Leiden eines jungen Werthers, zeigt jedoch beispielhaft schön, wie neues, digitales Theater ohne Beigeschmack funktioniert. Ein Liebesdrama zwischen Skype und Instagram.

Ein mittlerweile vertrautes Bild unserer Zeit: Zwei junge Studis vor der Webcam, Werther (Jonny Hoff) und Willy (Florian Gerteis) beim gemeinsamen streamen. Werther in lockerem Hemd, Chips im Mund und Strähnen im Gesicht. Willy, ein Lebemann im Hawaii-Hemd, mit Drink in der Hand und dem Herz auf der Zunge. Werthi ist cute und bei Willy high life. Sie reden über das Auslandssemester in Frankreich, ein abgebrochenes Jurastudium und die großen Fragen eines noch jungen Lebens. Inhaltlich beim Original, sprachlich im Hier und Jetzt.

Dieses Sich-Umbringen wegen ’nem Girl, ist das wirklich noch zeitgemäß, really?

Und wie! Really! Das zeigt das freie Theaterkollektiv punktlive aus Karlsruhe in ihrer Live-Stream-Adaption von Goethes Briefroman. Die Bühne der Desktop, der Blick von Werther. Und als Digital Native ist der natürlich in Dauerkommunikation. Ständig poppen Chats auf, Sprachnachrichten werden verfasst, während gleichzeitig Bilder versendet werden. Ein Gif, ein Call und Werther scrollt sich durch seine Fenster zur Welt. Daher überrascht es kaum, dass er Lotte (Klara Wördemann) nicht auf einem Ball, sondern über Ebay-Kleinanzeigen kennenlernt. Und das magische Gewitter, der romantische Moment, als Lotte und Werther ihre Seelenverwandtschaft im prasselnden Regen erkennen – bei Zoom, jeweils Zuhause, im Lockdown allein vor dem Bildschirm. Dennoch unglaublich nah und genauso magisch wie im Original.

Unsere Empfindung verschwimmt darin wie unser Auge.

Denn aufgrund der Perspektive entsteht eine sehr intime Stimmung, die uns an Werthers Innenleben teilnehmen lässt. Wir sehen die Welt durch seine Augen, wodurch viel Identifikationspotenzial eröffnet wird. Und nicht nur das, wir bekommen auch einen authentischen Einblick darin, wie Liebe im 21. Jahrhundert oftmals aussieht. Wie er nicht von ihrem Profilbild ablassen kann, mit der Maus ihre dunklen Locken nachzieht und sich in den endlosen Schleifen ihres gemeinsamen Liedes auf Youtube verliert.

Wir sehen aber auch die Unsicherheit, die im Vergleich mit Lottes Vorzeigefreund Albert (Michael Kranz) entsteht. Der umweltbewusste Backpacker, der perfekte Gutmensch, mit dem Lotte auf Instagram so unerreichbar glücklich aussieht. Und so verrennt sich Werther von schmachtend, schwärmend, zu quälend, stalkend. Denn das 21. Jahrhundert und seine folternden Möglichkeiten, sich der unerfüllten Liebe permanent hinzugeben, treiben unseren lieben Werthi in die Verzweiflung – und schließlich in den Freitod.

Stream und Drang?

Für ihre erste freie Theaterarbeit hat die Regisseurin ein junges engagiertes Team zusammengestellt und ein crossmediales Netztheater konzipiert, das zur Interaktion einlädt. Die diversen Kanäle, die im Stück erscheinen, werden alle live bespielt und übertragen. Parallel zum Stück haben alle Charaktere sogar ein eigenes Instagram-Profil, das während der Aufführung mit Bildern und Kommentaren gefüttert wird. Doch auch die Zuschauenden werden ermutigt den Accounts zu folgen und ihnen Nachrichten zu schicken. Ein weiterer Kniff, der die Grenzen unserer Welten verschwinden lässt.

Im November feierte das innovative Stück Premiere und wurde sogleich mit dem Deutschen Multimediapreis MB21 belohnt und landete auf der Auswahlliste zum Nachtkritik-Theatertreffen. Zurecht, denn an keiner Stelle fühlt sich das digitale Stück wie ein Ersatz oder eine Notlösung an. Das achtköpfige Team hat mit Bravour bewiesen, wie Theater auch ohne das Theater funktioniert und Impulse für eine neue Zeit gegeben – eventuell sogar neue Maßstäbe gesetzt.

Wer sich selbst von dem Stück überzeugen möchte, hat dazu noch am 24. und 25.05. jeweils um 20 Uhr die Möglichkeit. Genaue Infos unter www.werther-live.de.

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