Wenn ich Texte über „boobs“ und „pussys“ höre, dann denke ich zuerst, dass ich mitten in einem hitzigen und dreckigen Rap-Battle gelandet bin. Aber tatsächlich tauchte ich in den Online-Stream von Rupi Kaur Live ein. 

Am 01. Mai um 3:00 Uhr nachts (GMT+1) wurde die Lesung der Instapoetin Rupi Kaur online gestellt und das ganze Wochenende hatten Fans die Möglichkeit, sich den Stream anzusehen, so oft sie wollten. Für 15 $ erkauften sie sich über die Plattform veeps den Zugang zum Video und konnten sich während des Schauens in einer Kommentarbox untereinander austauschen. Die Resonanz war durchweg positiv und es regnete Lob und Dankbarkeit von den Zuschauer:innen für Rupi.

Kaur wurde über Instagram für ihre Gedichte berühmt und hat mittlerweile schon ihr drittes Buch veröffentlicht. Die gebürtige Inderin, die als Kind mit ihrer Familie nach Kanada auswanderte, musste dafür aber einen langen Weg zurücklegen. Als junges Mädchen nahm sie an Open Mic Nächten teil, wo sie ihr Publikum bereits verzauberte. Damals fragten sie viele Zuhörer:innen nach ihren Büchern, aber noch konnte sie ihnen nichts bieten. Sie kontaktierte allerhand Verlage, doch bekam reihenweise Absagen erteilt. Ihre logische Konsequenz: Sie machte sich daran, ein Buch selbst zu gestalten und zu veröffentlichen. Milk and honey erschien 2014, als Kaur gerade einmal 22 Jahre alt war, und wurde zu einem New York Times Bestseller. Es folgte the sun and her flowers (2017) und im letzten Jahr home body – ebenfalls Bestseller, die in rund 40 Sprachen übersetzt wurden.

but without you here

everything at its best

is only mediocre

– rupi kaur

Anfang 2020, vor der Corona-Pandemie, las Kaur ihre Gedichte einem Publikum in Los Angeles vor. Der Auftritt wurde aufgezeichnet und es entstand in Zusammenarbeit mit Andrews McMeel Universal (AMU) die Show „Rupi Kaur Live“, als hätte das Team geahnt, dass Kaur ihre Fans bald nur noch über den heimischen Bildschirm würde erreichen können.

Die Dichterin steht im Orpheum Theatre allein auf der Bühne, nur ein Mikrofon vor sich und einen kleinen Tisch, auf dem ihre Bücher ruhen. Ihre Erscheinung ist eindrucksvoll und offensichtlich mit Bedacht gewählt: Barfuß, ein langes, weißes Kleid und ein goldener Kranz im Haar lassen Kaur aussehen wie ein Engel mit einem Heiligenschein. Unterstützt wird ihre bloße Anwesenheit durch eine Videowand hinter ihr, auf der sich bunte Muster stetig verändern und die Poetin mit warmem Licht anstrahlen. Ab und zu werden Fotos von Rupi Kaurs Familie eingeblendet oder ihre eigenen Zeichnungen, mit denen sie ihre Gedichte illustriert. Für ein paar Werke wird auch seichte Hintergrundmusik eingespielt. Eigentlich bräuchte sie die auditive und visuelle Unterstützung nicht, denn es reicht, sie dabei zu beobachten, wie sie sich zu ihren Gedichten wiegt und bewegt, um diese lebendig und kräftig werden zu lassen.

Mit den Themen, die Kaur anspricht, kann man sich leicht identifizieren: Es geht um Liebe und das Ende von Beziehungen, um Selbsthass und den Weg zum Selbstwertgefühl. Aber viel wichtiger als das, sind ihre feministischen und antirassistischen Botschaften, die sie mit auf den Weg gibt: Sie schreibt vor allem davon, dass Frauen nicht die Lustobjekte der Männer sind, sondern im Gegenteil auch selber Spaß an Sex haben dürfen; dass Frauen nicht die Liebe eines Mannes brauchen, um sich selbst zu mögen oder jemand zu sein; dass Frauen nicht mit dem Alter in Vergessenheit geraten, sondern dass auch sie reifen und an Macht gewinnen. Dabei nimmt sie gern sexistisch behaftete Begriffe wie “boobs” und “pussy” aufs Korn und macht daraus Gedichte, die zu Hymnen für mutige und intelligente Frauen werden. Zudem macht sie sich als person of colour stark, für die Akzeptanz aller Menschen, unabhängig von deren Hautfarbe. Sie zeigt, dass sie ihre Hautfarbe liebt. Alle Gedichte sind sehr persönlich und erzählen aus Kaurs Leben und dem ihrer Eltern. Sie hebt besonders ihre Mutter hervor, als starke Frau, die es schaffte, eine Familie ganz fern von der Heimat großzuziehen und sich immer um sie zu kümmern.

i wanna apologize to all the women

i have called pretty

before i’ve called them intelligent or brave

– rupi kaur

Kaurs Formulierungen sind einfach und ohne jegliches Reimschema oder Metrik, damit ihre Zuhörer:innen bzw. Leser:innen den Inhalt der Gedichte sofort verstehen. Viel wichtiger als die lyrische Form der Werke ist der Autorin, dass nach dem Lesen die Gedanken einsetzen und sich um den Inhalt drehen, etwas im Menschen bewegen. Als Instapoetin ist sie mit dieser Einstellung nicht allein: Ihre Gedichte fügen sich in den flüchtigen Alltag der Leser:innen in den sozialen Medien ein. Sie sind dafür geschaffen, im Instagram-Feed aufzutauchen, schnell konsumierbar zu sein und anschließend mit viel Emotion Eindruck zu hinterlassen. Manche Literaturwissenschaftler:innen und Autor:innen kritisieren die Instapoesie, aufgrund ihrer fehlenden Form, als Gedichte, in die nicht viel Mühe gesteckt wurde, erkennen den Werken sogar den Gedicht-Status ab. Allerdings müssen sie auch einsehen, dass die Lyrik sich mit dem Einzug der sozialen Netzwerke weiterentwickelt hat, andere Bedürfnisse erfüllen muss und das erfolgreich tut. Nicht umsonst hat Rupi Kaur über vier Millionen Follower auf Instagram. 

it is a blessing

to be the color of earth

do you know how often

flowers confuse me for home

– rupi kaur

Ganz im Gegenteil zu kritischen Stimmen, hat Kaur dafür gesorgt, dass die Poesie wieder in Mode gekommen ist und sich mehr Menschen für Dichtkunst interessieren. Mit ihrer Live-Performance hat sie gezeigt, dass es nicht immer ein abgedrehtes Konzert sein muss, sondern dass auch Lesungen spektakulär sein können. Kaur hat einen großen Einfluss auf einen nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft und ihre Botschaften sind welche, die in die Welt hinausgetragen werden müssen.