aufgeschrieben, Schreibecke

Wilhelm der Letzte

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Eine Kurzerzählung über Familientraditionen, die rätselhaften Verzweigungen des Todes und eine surrende Fliege.

„Webel das Feld, das du bestellst“, sagte mein preußischer Urgroßvater. Vielmehr war er Schlesier, jedenfalls verschlissen. Hosenbeine bügelfaltenfrei, frei sich zu entfalten, je nachdem, was er ausbügeln musste. Krieg hier, Krieg da. Marschbefehl, also Schritt halten. Hosenschritt deshalb auch weitläufig, wie das Gelände, das es zu überprüfen galt, jederzeit. Begangen wurden nicht nur Gelände, auch Straftaten, Gräueltaten, Heldentaten weniger, aber tatenlos zuschauen taten die Wenigsten. Die Meisten waren dabei, schreiend-still, jubelnd-niedergeschlagen, höflich-aggressiv, immer ambivalent, dem Ami fremd, heute nicht denkbar. Saufen konnten die alle. Aus Trögen, Humpen, Stiefeln, aus Holz, Glas, Stoff. Und die Umdrehungen, die das hatte. Da halten selbst deutsche Autohersteller heutzutage nicht mit. Mit Karacho in die Nacht, Mittags wird weiter gemacht. Ich weiß noch, wie er sich zu mir beugte und mir ins Ohr flüsterte: „Junge, wenn du dir die Butter vom Brot nehmen lässt, nützt dir auch das beste Stück Speck der Welt nichts.“

Seit meiner ersten Erinnerung ging er stets gebückt, der gute Wilhelm, Gott hab ihn selig, seelenruhig allerdings, Schritt für Schritt, er gab trotz seiner 97 Jahre den Takt vor, taktgebend, Schritt, Schritt, Stopp, Schritt, Stopp, Schritt Schritt, Sitz, Nicken. Nicken in die Ferne, der Kopf gesenkt, anmutig und senil zugleich, eine abwesende Anwesenheit strahlte er aus, die Schnäuzerenden spitz nach oben zeigend, als ob sie sagen würden: „Hier war mal eine Pickelhaube, könnt ihr sie noch sehen oder euch wenigstens vorstellen?“ Ja, ihr Schnauzhärchen, ich kann. Auch die Uniform sehe ich deutlich vor mir, der Haken seines Jogginganzugs verschwimmt, es addiert sich ein weiterer hinzu. Moment, falsches Jahrhundert, falscher Krieg, aber da war doch was. Was hatte Wilhelm gesagt? „Krieg ist wie ein Braten. Ist der Ofen einmal an, verschwende kein Fleisch.“ Wahrlich, das taten sie nicht.

Ich war neun Jahre alt, als er starb. Plötzlich, aufgefahren vom Tisch, als wäre eine Gesellschaft des bayrischen Feudaladels durch unsere Küchenstube gelaufen, die Augen starr fixiert, bis heute weiß ich nicht auf was, denn der graue Star in seinem rechten Augen ließ nicht erahnen, was er vor sich sah. Mein ergrauter Star, auf Fotos heldenhaft posierend, kurzzeitig in Tugendhaft genommen, immer ein Vorbild. Bevor ich mir ein Bild von meinem Urgroßvater machte, wirkte meine Mutter auf mich ein. „Er ist ein guter Mann“, sagte sie immer wieder, dann mit drei Jahren lernte ich ihn kennen. Mit drei zum Quadrat Lebensjahren erahnte ich die Ecken und Kanten meines Idols, der als Lokomotivführer und Briefzusteller arbeitete, stets in Uniform, auch in der Freizeit, stets die Uniformen angelegt, wie das Gewehr.

An dem Tag, als er starb, saß ich neben ihm. Nein, als er aufsprang, stand ich neben ihm, er neben mir, nein, wir beide standen neben uns. Sonst stand dort niemand. Ein Zucken in der gelblichen Fingerkuppel seines rechten Zeigefingers, der ausgestreckt, wie die Zunge Albert Einsteins, auf den Fixpunkt seiner Augen deutete, doch die Augen starrten auf die kahle weiße Wand, aschfahl, ins Nichts, bedeutungslos. Bis heute weiß ich nicht, was er dort zu sehen vermeinte, ob ich richtig verstand, dass dieses letzte Aufbäumen, dieser letzte Stoß nur ein theatralischer Wink mit dem Zaunpfahl war, gedacht, um mir mit dem Brett eins überzuziehen, eine Lehre mitzugeben, anstelle einer Ohrfeige.

Ich denke immer wieder darüber nach, was er mir als letztes, zwei Minuten vor seinem großen Auftritt, erzählte: „Ich ging als Junge oft wandern. Allein. Nur die Natur. Das Geräusch, wenn ein Ast durch einen gezielten Fußtritt knackt, der Körper in Bewegung ohne Ziel. Die Waden angespannt, der Atem leicht schwer, schnaubend voran, ja ja. Weißt du, Josef, dass es bei uns immer Kartoffeln gab. Jeden Morgen eine Kartoffel zum Frühstück, und zu Mittag für jeden einen Berg Kartoffeln. Ein gigantischer Berg. Von dem hätte Jesus predigen können. Aber eins gab es nie, Vergebung.“ Vergebung? … Nein, er sagte etwas Anderes. Was war es? Vergebung … Josef, ernsthaft? Wie oft ich es auch durchgehe, dieses letzte Wort windet sich, findet einen Ausweg, die schwulstigen aufgebissenen Lippen formen das Wort, doch es entkommt, verhöhnt mich, keine heimliche Flucht, ich sehe ihm dabei zu, catch me if you can, ruft es mir zu, aber egal. Ich weiß nur noch, dass ich zustimmend nickte und mir einen weiteren Löffel Zwiebelsuppe in den Mund schob.

Dann der Aufruhr! Der starr-flexible Blick, das Erzittern aller Gliedmaßen, übermäßig, über alle Maßen, dann Schockstarre, mein Uropa Wilhelm als Madame Tussauds Lieblingsstück, sie würde ihn lieben, hätte sie ihn gesehen, einpacken und ausstellen, hätte sie gedacht, dann das Fallenlassen, nein, eher das Fallengelassenwerden, von wem auch immer, nach rechts, ab auf die Sitzbank. Äußerst hässlich, mit Blumenmuster in mintgrün und weiß bezogen, ohne Bezug zu irgendjemanden, aber immer schon so dagewesen. Jetzt, Wilhelm am Verwesen, ein Wesen gewesen, ich schaute ungläubig, aber Gott richtet das auch so. Ich setzte mich wieder. Stille, nein Quatsch, keine Stille, Surren. Surren einer Fliege, die es sich an den Rand meines tiefen Porzellantellers gemütlich machte, randständige Erscheinung, erscheint vielleicht unbedeutend, doch diese Fliege bedeutet mir heute noch alles. Mehr noch als mein Urgroßvater Wilhelm. Das klingt verrückt, mag sein. Doch die Beine, die in einer hektischen Ruhe ausschlugen, verstand ich. Ich verstand die zwei schwarz-rötlichen Augen. Ich verstand die silbrig-schimmernden undurchsichtig-transparenten Flügel. Ich verstand plötzlich alles. Der Uropa ist nicht mehr, die Fliege ist jetzt da. Nach ihr wird eine weitere Fliege kommen, ein weiterer Urgroßvater, vielleicht nicht Schlesier, vielleicht kein Wilhelm, aber ein weiterer. Die Bande der Familie werden zerschnitten, aber wieder neu geklebt, ein neuer Film entsteht, erst schwarzweiß, dann restauriert in Farbe, bessere Auflösung, bis sich alles wieder auflöst und von Neuem die Filmrolle in die silberne Transportdose gelegt wird. Fein säuberlich aufbewahrt, herausgeholt für das große Finale, das irgendwann im Weltenbrand enden wird, vorerst verbrennt nur die Filmrolle, die sich aufgehangen hat. Das immer gleiche Abspulen führt zum Aufhängen, keine Frage, an ihr braucht man sich nicht aufhängen, das machen andere, auf Kosten anderer, stellen sie sich die großen Fragen, aber die kleinen Fragen schreien von unten, was ist mit uns, wer stellt sich uns, wer will sich uns in den Weg stellen, die Stellung der Frage wird zur Fragestellung. Kein Wunder also, dass Wilhelms Leichenpose die Form eines Fragezeichens annahm. Stellte er sich schon zu Lebzeiten keine Fragen, so zumindest im Tod.

Mir gibt nur sein letztes Wort Rätsel auf. Ein Kreuzwortfeuer, das sich in mir entfacht, das sich bereits von der Magenschleimhaut zur Lunge ausgebreitet hat. Das Sodbrennen ist nicht gelindert, auch fünfundvierzig Jahre später nicht, der Siedepunkt auch nicht erreicht, ein innerer Wasserkocher auf Sparflamme, stand-by the dying grand-grandfather, nicht gehen, stehen bleiben, sitzen bleiben, weiter köcheln, nur das eigene Süppchen, Gedanken rühren. Urgroßvater rührte sich nicht. Ich aß auf, nahm den Teller, auch Urgroßvaters Teller mit in die Küche, stellte sie ab, zog zuerst meine Jacke, dann die Schuhe an, schließlich die Tür zu. „Das Wandern wird dir gut tun“, sagte ich mir und stapfte allein den mit Brennnesseln bewachsenen Weg entlang.

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