Die Münchner Kammerspiele machen Jagd auf koloniale Geister
Zweifellos ist die kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialvergangenheit Deutschlands in der öffentlichen Diskussion schon zu lange vernachlässigt worden. Auf diesen Missstand weisen die Münchner Kammerspiele in ihrem Theaterstück „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten!” – Eine Erwiderung hin. In einem Mix aus Schau- und Puppenspiel, Comic und Film ist ein Kunstwerk entstanden, das relevanter nicht sein könnte.
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Mit Plakaten, wie sie auf antirassistischen Demonstrationen zu finden sind, stehen neun Schauspieler:innen und Mitwirkende vor der Kamera im Werkraum der Münchner Kammerspiele. Wie das Publikum, das den Stream auf seinen Bildschirmen verfolgt, warten sie auf 20 Uhr, den Beginn der Vorstellung. Es ist der 10. April 2021 und diskriminierende Strukturen gegen BIPoC gehören zu unserer Realität. Strukturen, die ihren Ursprung in der nie aufgearbeiteten Kolonialzeit haben. Wie ein Geist schwebt sie über unserer Gegenwart. Ein Geist? Nein. Hunderte, tausende Geister, eine ganze Armee bedrohlicher Überbleibsel einer verklärten Vergangenheit hat sich unter uns einquartiert und wir haben es uns mit ihr bequem gemacht.
Von der Suche nach dem Anfang
Auf die Jagd nach diesen Geistern begibt sich Cycy (Nancy Mensah-Offei), Protagonistin des Theaterstücks „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten!” – Eine Erwiderung. Mit Raumschiff und fantastischem Raumanzug reist sie für ihre Mission durch die Zeit, findet sich in den Jahren 1914, 1984 und in der Gegenwart wieder. Ihr Ziel ist der symbolische Anfangspunkt der deutschen Kolonialherrschaft über Togo: Die alte Landungsbrücke am Strand von Lomé. Doch um die Geister an ihren Ursprung zurückzubringen und endlich Ruhe einkehren zu lassen, ist zunächst die Konfrontation mit ihnen notwendig.
1914. Die deutsche „Musterkolonie“ Togoland wird im Zuge des ersten Weltkrieges von Großbritannien und Frankreich besetzt. Einige Tage vor der endgültigen Kapitulation wird die Funkstation Kamina durch das Betriebspersonal zerstört, um eine Übernahme durch die neuen Kolonisierer auszuschließen. An diesem Ort trifft Cycy auf den Kolonialfunker Siegfried Gaba Bismarck (Komi Togbonou).
„Wo bin ich hier?“
– „An einem Ort, den es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte.“
Doch es gibt ihn noch, den Ort der deutschen Kolonialvergangenheit. Denn das Ende einer Kolonialherrschaft bedeutet nicht das Ende der von ihr geprägten Machtverhältnisse. Am Leben gehalten werden sie von Ausblendung, Leugnung und Verherrlichung. In der Funkstation empfangen Cycy und Siegfried Signale dieser Art aus den achtziger Jahren. Die Stimme eines deutschen Politikers dröhnt aus den Funkgeräten, sein Konterfei erscheint auf einem Bildschirm. „Nicht jetzt, Franz Josef!“, versucht Siegfried ihn noch abzuwimmeln. Doch sich kolonialer Geister zu entledigen ist nicht so leicht. Im Mittelpunkt von Cycys geisterjägerischem Interesse stehen fortan Franz Josef Strauß und seine Äußerung „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“, mit der sich der CSU-Politiker im Kontext der Feier einer 100-jährigen deutsch-togoischen Freundschaft 1984 an den damaligen togoischen Präsidenten Gnassingbé Eyadéma wandte. Was sich 1984 eigentlich zum 100. Mal jährte: Die Unterzeichnung des sogenannten Schutzvertrages durch Gustav Nachtigal, der Beginn einer ausbeuterischen Kolonialherrschaft der Deutschen über das heutige Togo und Teile des heutigen Ghanas. In dem titelgebenden Zitat bündelt sich die schamlose Leugnung kolonialer Schuld, neokolonialistischer Machtverteilung und postkolonialer Verflechtungen Deutschlands. Und es steht im Zeichen der bizarren Freundschaft eines deutschen Politikers zum diktatorischen Präsidenten Togos.
Auf ihrem Weg prangert Cycy nicht nur Franz Josef Strauß an. Sie spürt auch seiner Verbindung zum bayerischen Fleischfabrikanten Josef März (Martin Weigel) nach, der in Togo eine Produktionsstätte seiner Firma Marox eröffnet, und fragt den togoischen Historiker und Experten für westafrikanische Kolonialgeschichte Dr. Kokou Azamede um Rat.
Theater, das Grenzen überwindet
Neben verschiedenen Zeiten wandelt das Stück auch zwischen Darstellungsformen. Als „doku-fiktionales Mashup“ beschreiben die Macher:innen ihr Werk: Bühnen-Schauspiel wechselt sich ab mit in Togo gefilmten Szenen und Live-Schaltungen zu der Schauspielerin Jeannine Dissirama Bessoga in Lomé. Franz Josef Strauß und Gnassingbé Eyadéma treten als Marionetten auf und Comics von einem Team aus Zeichner:innen rund um Paulin Assem werden in das Stück integriert. Zu sehen ist das, was live gespielt und im Schnittraum gemischt wird. Die Unmittelbarkeit des Theaters funktioniert so auch im digitalen Format. Obwohl die Idee zum Stück bereits vor der Pandemie entstanden ist, hat die Situation der geschlossenen Theater maßgeblich zum Ergebnis beigetragen. Als streambare Online-Veranstaltung wäre es normalerweise nicht umgesetzt worden.
Visuell und auditiv trifft eine Achtziger-Jahre-Ästhetik aus Neon-Lichtern, Ghostbusters-Titellied und synthetischen Klängen auf die afrofuturistische Gestaltung des Kostüms der Hauptdarstellerin sowie Aufnahmen von Orten in Togo, wie den Ruinen von Kamina oder einem belebten Markt in Lomé. Mit dem Comic wird von einem togoischen Team eine Form beigetragen, die in Frankreich eine lange Tradition hat. Dazwischen mischen sich Originalton von Franz Josef Strauß und David-Bowie-Lieder. Gesprochen werden Deutsch, Französisch und die westafrikanische Sprache Ewe, versehen mit deutsch- und französischsprachigen Übertiteln. Ein Sammelsurium von Stimmen, das möglichst viele Perspektiven einbeziehen soll. Die Zusammenarbeit von togoischen und deutschen Künstler:innen schafft eine transnationale Nähe, die in der aktuellen Zeit der Distanz von besonderer Bedeutung ist. Im Nachgespräch zur Vorstellung vom 10. April verdeutlicht Regisseur Jan-Christoph Gockel, dass es gerade im Blick auf die Thematisierung des Kolonialismus wichtig ist, nicht allein die Münchner Perspektive einzubeziehen.
„Veränderung ist immer ein Akt in der Gegenwart“
Ein neues und beliebtes Bier in Togo heißt „Djama“. Umgangssprachlich bedeutet das seit der Kolonialzeit „deutsch“. Die Vermarktung des Biers baut auf einer Art Kolonialnostalgie. Was Jeannine Dissirama Bessoga live aus Lomé erzählt, wirft Fragen auf: Wie sieht die Erinnerung an die Deutschen in Togo heute aus? Wieso fällt sie im Vergleich zur Erinnerung an die französische Herrschaft so positiv aus?
Insgesamt sei in Togo das Wissen der Allgemeinheit um die Kolonialzeit deutlich größer als in Deutschland, berichten Dramaturgin Olivia Ebert und Regisseur Jan-Christoph Gockel im Nachgespräch. Kein Wunder, wenn Biermarken, Bauwerke und Amtssprache täglich auf die Vergangenheit des Landes hinweisen. Auch bei uns sind Spuren dieser Zeit im Alltagsleben verankert. Doch Straßen, die Namen ehemals berühmter Kolonialisten tragen, kolonial geprägte Welt- und Menschenbilder, rassistisch diskriminierende Strukturen und die wirtschaftliche Ausbeutung der früher kolonisierten Länder sind beschämend und zugleich abstrakter als massive Gebäude. Sie werden ausgeblendet. „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten!” – Eine Erwiderung akzeptiert diese Verdrängung nicht und fordert die Aufarbeitung der Kolonialzeit.
Am 24. Und 25. April 2021 wird das etwa neunzigminütige Stück jeweils ab 19 Uhr noch einmal übertragen, diesmal mit englischsprachiger Übertitelung. Der Ticketpreis kann zwischen 8€ und 80€ frei gewählt werden. Weitere Vorstellungen seien auch für die Zeit nach einer möglichen Wiedereröffnung der Theater geplant, hieß es im Nachgespräch am 10. April. Möglicherweise könne das Stück dann als hybrides Format umgesetzt werden, das sein Publikum sowohl im Theatersaal als auch im Livestream erreicht, sobald zumindest wieder ein kleines Saalpublikum empfangen werden kann.
Ein Gewinn der digitalen Umsetzung ist zweifellos die Möglichkeit, das Stück landesweit verfolgen zu können. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit und ihren Auswirkungen auf unsere Gegenwart geht uns alle an. Künstlerisch eindrucksvoll und in deutlichen Worten wird formuliert: Wir müssen Verantwortung übernehmen für die Vergangenheit. Dann kann Raum für eine ehrliche Freundschaft entstehen. „Veränderung ist immer ein Akt in der Gegenwart“.