Das volle Nichts
Ein kleiner Text über große Dinge.
Im Winter vor lauter Schnee nichts sehen zu können, heißt, Einsamkeit kennenzulernen. Allein dabei, dieses simple Phänomen zu erleben, die frische Luft in der Nase stechend. Zufällig ein Schauspiel beobachten, das weder aufgeführt wird noch ein Publikum braucht, Wölkchen in die Luft stoßend; weiß auf weiß. Nichts stört diese Stille als man selbst, knirschende Schritte setzend. Alles, was man tut, vergänglich, unerheblich, nichtig, im Fluss der Veränderung der wirbelnden Flocken untergehend.
Erschreckend diese Gegenwart der Leere, betäubend die Sinnlosigkeit von Taten, angsteinflößend die Ohnmacht angesichts des Laufs der Dinge. Der Atem verflüchtigt sich, der Schall verebbt, die Fußabdrücke werden begraben. Nur eine Frage der Zeit, bis der Schnee, der sich auf die Schultern setzt, einen verschüttet; ein watteweicher Globus für den Alltags-Atlas.
Eingeschlossen in dieser Schale aus glitzerndem Eis lässt sich schwerlich erkennen, ob die Sonne durch eine Wolkendecke scheint oder Sturmlichter die Nacht erhellen. Ob auch andere durch die Einöde stapfen. Ob sich Büsche oder Müllberge unter der Schneedecke verstecken. Man muss nur hingehen und nachschauen. Wer würde das verhindern? Wenn niemand zusieht, niemand zuhört, warum nicht durch das Weiß tanzen? Die Zunge ausstrecken und die Flocken auffangen, das schale Schmelzwasser schmecken. Dem monochromen Himmel alle Frustration und Wut entgegen jaulen! Wieso keinen Hügel aufschütten und zum Berg heranwachsen lassen?
Im Winter vor lauter Schnee nichts sehen zu können, heißt, Einsamkeit kennenzulernen. Spuren im Schnee, gefrorener Atem; nichts als Hinweise. Die Wetterblase fängt ein, wirft zurück, was man ihr gibt. Sie ist ein Spiegel. Man steht allein vor ihm, gezwungen, in ihn hineinzublicken, in die eigenen Augen und sich den Fragen zu stellen, die längst gestellt sind. Der Schrecken liegt nicht in der Leere, sondern in der Fülle an Möglichkeiten, die sich vor einem aufbauen und die Folgen, die sie repräsentieren. Die Welt liegt dar, ein weißes Blatt, das beschrieben werden möchte. Aber wie?
Wer mehr über das Nichts und seine literarische Aufbereitung erfahren möchte, kann sich meine Zusammenfassung von Peter Stamms Poetik, seiner ‚Ästhetik des Verschwindens‘, zu Gemüte führen.
Zur grundlegenden Idee, dass nichts von sich aus einen Sinn besitzt, sondern erst mit Sinn besetzt werden muss, was ein sehr befreiender Gedanke sein kann, gibt es ein schniekes Video (auch auf Englisch).
Wir haben eine kleine Liste von Kreativtipps, die helfen können, die überwältigende Vielfalt hinter der leeren Seite (oder Leinwand) zu bezwingen.