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Das krisenhafte Familienalbum: Richard Billinghams Fotobuch Ray’s a laugh

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Die Familie – Ein Ort der Geborgenheit, der Intimität und der Liebe. Ob als physischer Ort oder soziale Konstellation – die Familie bietet uns ein Zuhause sowie Schutz und Freiheit. Doch was passiert, wenn das eigene Zuhause keinen Schutz darstellt, sondern eine Bedrohung; das Gefühl des Lockdowns kein vorübergehendes Produkt einer Pandemie ist, sondern ein stetiger Zustand aus Angst und Handlungsunfähigkeit? Die Fotografien von Richard Billingham liefern einen schonungslosen Blick auf die Krisen innerhalb der Instabilität der eigenen vier Wände.

I’m just going to lie on my back and be dumb.“

Ein gebrechlicher Mann mit tiefen Falten und grauen Haaren sitzt auf dem schmutzigen Boden einer winzigen Toilettenkabine. Sein Ellenbogen liegt erschöpft auf dem zerbrochenen Deckel der kotverschmierten Toilette. Wie ein Schiffbrüchiger am Rettungsring hält er sich an der Schüssel fest. Er wirkt zusammengebrochen und abwesend, nahezu ohnmächtig. Die Augen sind geschlossen, die Hose ist noch auf.

In seinem Fotobuch Ray’s a laugh legt der britische Fotograf Richard Billingham einen intimen aber auch gnadenlosen Blick auf das verwahrloste Dasein seiner Arbeiterfamilie aus Birmingham offen. Ein Alltag geprägt von Fernsehen, Selbstzerstörung und Perspektivlosigkeit. In der Hauptrolle: Sein stets betrunkener Vater Ray. Als Billingham 1990 anfängt das prekäre Alltagsleben zu porträtieren, ist Ray bereits seit 10 Jahren arbeitslos, was ihn in eine schwere Lethargie und Alkoholsucht trieb. Fortan verließ er nicht mehr die Wohnung und verbrachte seine Zeit im Schnapsdelirium – apathisch und abgemagert. Als zahnloser Schatten seiner selbst bildet er das chaotische Zentrum, um das die familiären Krisen kreisen. Ein Fremdkörper innerhalb der Familie. Ein unterdrücktes Opfer von Gewalt. Ein vor sich hin dämmernder Hauch, unfähig auf irgendeine Weise zu interagieren.

Dem gegenüber steht Billinghams Mutter Liz: Fleischig, dominant und in gigantische Blumenkleider gehüllt. Auf vielen Bildern erscheint sie gewalttätig und monströs, mit geballter Faust oder als alles verschlingende Masse. Gleichzeitig zeigt Billingham seine Mutter aber auch zurückgezogen, vertieft in einem Meer aus Puzzleteilen oder als fürsorgliche Akteurin umgeben von einem Haushalt aus Passivität. Diese ambivalente Bildsprache verdeutlicht sich besonders in einer extremen Nahaufnahme, in der uns zuerst nur ihre äußere Erscheinung entgegen springt – Bartstoppeln, fleckige Zähne und Pickel. Ist die Oberflächlichkeit unseres voyeuristischen Triebs aber befriedigt, offenbart sich in der Aufnahme eine tiefere Feinfühligkeit. Denn während sie liebevoll das fragile, kleine Kätzchen in ihren Armen hält und es sorgsam mit einer Spritze füttert, wirft sie ihrem Sohn einen Blick durch die Kamera zu, der die tiefe Zuneigung einer Mutter zum Vorschein bringt. Sowohl physisch als auch emotional stehen sich Fotograf und Motiv hier sehr nahe. Doch auch ihr zweiter Sohn Jason und ihr Mann Ray erscheinen in Form von Tätowierungen entlang ihrer behütenden Arme, wodurch sich der intime Kreis der geliebten Familie zumindest metaphorisch schließt.

Bildquelle: ©Julian Mawick
Bild: ©Julian Mawick

Zwar ist Liz nicht alkoholkrank, dafür aber starke Kettenraucherin mit Sammelwut. In den meisten Bildern wird die menschliche Misere von Liz‘ farbenfrohem Einrichtungsschmuck kontrastiert. Szenen von Gewalt, Entfremdung und Resignation werden von bunten Tapeten und Clownsfiguren umkreist, die wie Zuschauer das Geschehen in der Manege verfolgen. Dazwischen: Hunde, Katzen, Ratten und ab und zu Billinghams jüngerer Bruder Jason.

Im Zeichen der 90er

Inspiriert von den Alltagsmalereien des Künstlers Walter Sickert, dienten die Fotos ursprünglich als Vorlage, um die Tragik seines Vaters in Gemälden festzuhalten. Denn der 1970 in Birmingham geborene Richard Billingham studierte eigentlich Malerei und versuchte über die Kunst dem Schicksal des sozialen Brennpunkts zu entkommen. Sein damaliger Dozent Julian Germaine erkannte sofort das Potenzial in den Fotografien, weshalb sie 1996 eine Auswahl als Fotobuch veröffentlichten. Die Bilder waren eine Sensation und machten Billingham schlagartig berühmt. Es folgten zahlreiche Ausstellungen in London, Paris und New York sowie eine Nominierung zum renommierten Turner Preis.

Auch wenn Billingham nach eigener Aussage kein Bewusstsein für den gegenwärtigen Diskurs der Kunstfotografie hatte, stehen seine Bilder paradigmatisch für eine ganze Generation. Denn gerade zu Beginn der 1990er lässt sich eine zunehmende fotografische Auseinandersetzung mit dem persönlichen Umfeld und den subjektiven Lebensrealitäten ausmachen. Beeinflusst von Kunstschaffenden wie Larry Sultan oder Nan Goldin, widmet sich die jüngere Generation auf radikalere Art und Weise den privaten und häuslichen Bildwelten. Fotograf:innen wie Wolfgang Tillmanns, Nick Waplington oder Elinor Carucci geben intimste Einblicke in Sexualität, Familie und psychische Krisen. Stilistisch weisen diese Arbeiten meist eine amateurhafte Schnappschuss-Ästhetik auf und bieten einen vermeintlich authentischen Insider-Einblick.

Bild: ©Julian Mawick

Familienfotografie als Selbsterzählung

Indem Richard Billingham das prekäre Dasein seiner Eltern der Öffentlichkeit zugänglich macht, durchbricht er die tradierte Trennung öffentlicher und privater Sphären und weckt das voyeuristische Interesse am gesellschaftlich Randständigen. Als Fotobuch konzipiert, kombiniert Billingham narrative Elemente, wie Sequenzen und Pausen, um gezielt den Effekt einer Erzählung zu suggerieren. Dadurch inszeniert er ein sinnstiftendes Familienbild – und steht somit in der Tradition des Familienalbums. Auch die Ästhetik seiner quasi-dokumentarischen Bildsprache verstärkt den Effekt authentischer Unmittelbarkeit zwischen Porträtierten und Betrachtenden, wodurch eine einfühlsame Identifikation ermöglicht wird, da er eben nicht nur Beobachter sondern auch Teil der gezeigten Sozietät ist. Wird die anfängliche Sensationsgier erst mal überwunden, eröffnet sich in den Momentfotografien eine künstlerische Feinfühligkeit, welche die inneren Zustände seiner Figuren über die formal-ästhetische Gestaltung seiner Bilder transportiert. Emotional offenbaren vor allem die Blickführungen einen zwar kurzzeitigen, dafür jedoch sehr tiefen Einblick in die familiären Beziehungen.

Weder stellen die Fotografien eine Schuldfrage, noch klagt Billingham seine sozial determinierten Eltern an. Denn neben Rausch und Misere transportieren die Bilder auch Momente der Sehnsucht, Zärtlichkeit und Freude. Viel mehr reflektieren sie unsere kulturellen Konzepte von Privatsphäre, Familie und den Möglichkeiten der Armut. Zwar verändern sich Paradigmen und Pandemien gehen wieder vorbei. Doch Familien wie die Billinghams bleiben.

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